Über die Numilen

Das Blaue Volk werden die Numilen genannt, und wenig Liebe wird ihnen von den meisten Menschen entgegengebracht. Bestenfalls wird die Existenz des Sumpfvolkes ignoriert. Die Menschen von Aalstad haben in früheren Jahren gar Trupps zusammengestellt, um die Wälder nach Numilendörfern zu durchkämmen. Diese wurden angezündet und ihre Bewohner massakriert. In den letzten Jahren ist es aber ruhig geworden am Grünen Fluss, der die Grenze zwischen den Reichen der Numilen und der Menschen darstellt.

„Hast du schon einmal einen Numilen gesehen, Alberto?“
„Aber ja!“ antwortete der Gelehrte. „Warte einen Augenblick!“ Er drehte sich von ihr weg, zog eine Truhe unter einem Schrank hervor und öffnete den Deckel. Achtlos warf er Bücher und Schrift­rollen beiseite, ehe er das gesuchte Pergament hervorholte. „Und Achtung“, rief er und entrollte das Schriftstück.
Vor Susannas erstaunten Augen entfaltete sich das Bildnis eines Mannes – besser gesagt eines entfernt menschenähnlichen Wesens mit grotesk wirkenden Gliedmaßen und einer bläulichen Hautfarbe.
„Ich habe es selbst gezeichnet“, erläuterte Alberto und krümmte den Hals, um einen Blick auf sein eigenes Bild zu werfen. „Dieser Numile war Häuptling Qu-pa-Chok und vor sechs Jahren zu Gast am Hofe Fürst Bartolomeos. Der Herr von Miramia pflegt seine Freundschaft mit den Numilen, allen Vorurteilen und Abneigungen zum Trotz.“
„Ich wusste nicht, dass du zeichnen kannst“, sagte Susanna erstaunt.
Alberto legte das Bild auf den Boden und beschwerte die Ecken mit Büchern. „Nun ja, es ist nicht eben ein Kunstwerk. In Malinda haben sie einen Gelehrten, der gleichzeitig ein großer Künstler ist. Davon bin ich weit entfernt. Sein Name ist übrigens Leonardo, wie der Eures Vaters.“
Susanna hörte ihm nicht zu, so sehr war sie von dem Bildnis gefesselt. Sie hatte sich beschreiben lassen, wie ein Numile aussah, aber eine Zeichnung hatte sie noch nie gesehen. „Sie haben wirklich blaue Haut?“
„Ja“, bestätigte Alberto. „In ihren Heimatsümpfen können sie sich vortrefflich verbergen. Ihre Hautfarbe sieht dort genauso aus wie die Umgebung. Siehst du diese Hauttasche hier?“ Er wies auf eine Wölbung am Bauch. „Viele glauben, die Numilen seien besonders dick, aber in Wahrheit ist es ein Hohlraum, in dem die Numilen ihre Kinder groß wachsen lassen – ein Brutbeutel.“
Misstrauisch beäugte sie Alberto, um zu ergründen, ob er sie auf den Arm nehmen wollte. „Aber das hier ist doch ein männlicher Numile, oder?“
„Das weiß ich nicht. Die Numilen sind ganz anders als wir. Manche Gelehrte haben behauptet, alle Numilen seien Frauen, und ihre Männer hätten eine völlig von ihnen verschiedene Gestalt und könnten die Sümpfe nicht verlassen. Aber vielleicht gibt es bei den Numilen auch gar keine zwei Geschlechter. Es ist möglich, dass dieses Wesen sowohl Mann als auch Frau war.“

(Auszug aus Der Bund der Raben)

Die Menschen haben nur selten begriffen, dass die Numilen ein großes Volk mit ebenso vielen Fraktionen wie die Menschen selbst sind. Die Taten einzelner Numilen fielen daher stets auf alle zurück. So stellte sich erst Jahre nach dem Haronenkrieg heraus, dass die Numilen, die sich mit Fürst Bartolomeo von Miramia verbündet und das Farnland verwüstet hatten, eine Gruppe verfemter Söldner waren, die im Numilenland in niedrigem Ansehen stand. Dem Großteil des Blauen Volkes waren die Menschen und ihre Angelegenheiten gleichgültig.

Was die Menschen dazu verleitet, die Numilen zu verachten, ist neben ihrem fremdartigen Äußeren vor allem das Wissen darum, dass alle Länder einst von Numilen beherrscht waren. Menschen mussten um Erlaubnis bitten, wollten sie frei in Norlan umherwandern oder eine neue Siedlung gründen. Der Hochkönig der Numilen herrschte in jener Zeit auf Tuun-aal-Qohk, jener Burg, die heute als Zadar bekannt ist. Daneben hatten sie eine Art religiöses Zentrum namens Yeo-bin-Oohk, heute eine fast vergessene Ruinenstätte im Westen des großen Waldes.

Das Misstrauen jener Zeit wurde mit der Ankunft des Namenloses Volkes und des Prinzipals gebrochen. Der neue Feind schweißte Numilen und Menschen zusammen. Unter dem Numilenkönig Gur-bej-Nam kämpften beide Völker in der numilischen Feste Yyn-y-Qruuk, die heute als die Waldschanze bekannt ist. Der Prinzipal wurde besiegt und der große Vertrag geschlossen, in dem Norlan zwischen den Namenlosen einerseits sowie Menschen und Numilen andererseits geteilt wurde.

So trafen sich die Führer von Menschen und Numilen auf der Brücke, die den Grünen Strom quert. Die Menschen entsandten Grondig, achtundsechzigster König von Bodnak und in direkter Linie Abkömmling jener ersten Menschen, die an die Strände Norlans gespült wurden. Für die Numilen aber erschien Gur-bej-Nam, einst Turmwächter in Yeo-bin-Oohk und seit nunmehr dreiundsechzig Jahren Hochkönig auf Tuun-aal-Qohk. Ewige Freundschaft wurde von beiden Seiten beeidet, und unser Herr Grondig schwor Gur-bej-Nam die Lehenstreue. Große Zuversicht herrschte, als die Heere der Menschen und Numilen vereint waren. Man erzählt, dass sich sogar der Prinzipal hierüber beunruhigt habe.
(aus den Chroniken von Bodnak)

Nach der Teilung währte der Friede zwischen Menschen und Numilen nicht lange. Nach nur 36 Jahren überfiel Vangen, der siebzigste König von Bodnak, die numilischen Städte am Weißen Fluss. Es war der erste von fünf blutigen Numilenkriegen. Erbittert kämpften die einstigen Verbündeten gegeneinander, und am Ende waren die Menschen siegreich.

Fünfzehn Jahre währte dieser fünfte und grausamste Numilenkrieg. Menschliche Banner wehen nun über Burg Zadar, doch der Preis war schrecklich. Bodnak ist nicht mehr, und seine Königsfamilie ist ausgelöscht. Die Numilen haben die Waldschanze verlassen, und ihre Dörfer entlang des Roten Stroms und des Farno sind vernichtet. Beide Seiten haben furchtbare Verluste erlitten, doch noch immer wird das Morden fortgesetzt. Wie dieser Zwist ausgeht, sollen andere Chronisten schreiben. Das große Reich Bodnak wird nicht mehr auferstehen, und diese Chroniken werden geschlossen.
(aus den Chroniken von Bodnak)

In den folgenden Jahrhunderten gingen Menschen und Numilen getrennte Wege. Die Numilen blieben in den Sümpfen verborgen, und nur noch selten spielten sie in der von Menschen aufgezeichneten Geschichtsschreibung eine Rolle. Heute, über 2500 Jahre nach dem Ende des letzten Numilenkriegs, wissen selbst die Gelehrten wenig über die Numilen. Wie alt sie werden, wie sie sich fortpflanzen, wie sie ihren Alltag verbringen, wie viele es von ihnen überhaupt gibt - auf all diese Fragen sind keine befriedigenden Antworten gefunden worden. Doch wen kann es angesichts der blutigen Geschichte wundern, dass die Numilen so wenig mitteilsam sind.

„Wir erklären in später Stunden, Tarben Numilenfreund!“ sagte Qal-bej-Oohk. „Jetzt aber sind viele Worte gewandert von meinem Mund zu eurem Ohr, und viele Worte sind gewandert von eurem Mund zu meinem Ohr, und mein Mund ist müde, und mein Ohr ist müde. Müde und müde und müde. Jetzt wollen wir uns feiern, wir wollen uns essen, wir wollen uns trinken, und wir wollen erfreulich sein!“
(Auszug aus Der Schlüsselmeister des Prinzipals)