Die Chroniken von Bodnak

zurück

Obwohl die Ruinen der Stadt Bodnak nie gefunden wurden, vermuten Gelehrte sie in den verschneiten Höhen des Eisgebirges. Am Hof der Könige schrieben Chronisten die Ereignisse jener Jahrhunderte auf, in denen Bodnak die größte Stadt der Menschen in einem von Numilen beherrschten Kontinent war. Die Chroniken von Bodnak nennt sich dieser Wissensschatz. Einst versuchte die Kirche, alle Exemplare der Chroniken zu verbrennen, doch in heidnischen Ländern wie Eukar und Ikila überdauerten die Schriften, die heute auch in den Bücherregalen der Gelehrten Alberto von Farnese und Tarben Ragnarsson stehen.

Die ersten Menschen kamen unter der Führung eines Mannes namens Brand an die Küsten. Ihr altes Reich war in den Fluten des wütenden Meeres versunken, und nun hofften sie in Norlan eine neue Heimat zu finden. Norlan aber stand ganz unter der Herrschaft der Numilen, die den Kontinent von der Burg Tuun-aal-Qohk (heute Zadar) aus regierten. Die Hochkönige der Numilen erlaubten Brand und seinem Volk, an der kalten Nordküste zu siedeln. Dort lebten die Menschen über viele Generationen als Fischer und Händler. Menschen und Numilen beachteten einander wenig. Die Chroniken beginnen zwar erst mit der Gründung der Stadt Bodnak, doch in einem Rückblick auf vergangene Zeiten wussten die Chronisten zu berichten, dass die Zeit der friedlichen Fischerdörfer 750 Jahre währte, ehe die Menschen glaubten, zu höherem berufen zu sein.

Die Stadt Bodnak wurde die erste Stadt des Menschengeschlechts. Die Numilen erlaubten den Menschen die Gründung einer Stadt und die Krönung eines Königs, doch nur an einem unwirtlichen Ort, an dem zehn Monate im Jahr Frost herrschte. Grind der Erste, ein direkter Nachkomme des Seefahrers Brand, war der Meinung, dass dies nur gut für die Stärke der Menschen sei und nahm die Herausforderung an. Er ließ sich krönen, sobald das erste Haus errichtet war. Unter ihm und seinen Nachkommen wuchsen die Spannungen zwischen Menschen und Numilen. Immer wieder kam es zu Scharmützeln, doch ein großer Krieg blieb aus, da die Menschen fürchteten, zu unterliegen und Norlan verlassen zu müssen.

Gur-bej-Nams Sippe wurde im Jahr 820 nach der Gründung von Bodnak zu Hochkönigen der Numilen bestimmt. Sie wandten sich von der menschenfeindlichen Politik ihrer Vorgänger ab und boten König Grind dem Achten freundschaftliche Beziehungen an. Grind aber gab sich stolz und wies alle Angebote ab. Doch seine erwachsene Tochter wandte sich von ihm ab und zog mit vielen Anhängern aus, um den Numilen zuzuhören. Dies war Bradna, eine Kriegerin, denn in Bodnak standen Frauen wie Männer unter Waffen. Als erster Mensch besuchte sie Tuun-aal-Qohk und Yeo-bin-Oohk, die beiden heiligsten Stätten der Numilen. Der Numilenkönig gestattete Bradnas Volk, im Zackengebirge zu siedeln. Dort gründeten sie eine neue Heimat, und sie nannten sich die Zadarin. Täglich besuchten Zadarin und Numilen einander und pflegten eine enge Freundschaft. Bradna aber war rastlos und wollte sich an keinem festen Ort niederlassen. Mit einer Sippe von Kriegerinnen zog sie durch alle Länder, und diese Frauen waren die Ahnen der Stammesleute des Roten Landes.

Nicht alle Könige von Bodnak waren so verbohrt wie Grind der Achte, und die Beziehungen zu den Numilen waren mal besser und mal schlechter. Alle aber betrachteten die Zadarin und die umherziehenden Kriegerinnen als ehrlose Verräter, und jeder Kontakt mit ihnen war verboten. Das blieb so bis zum Jahr 986 nach der Gründung von Bodnak, als etwas Neues geschah: Die Namenlosen landeten an den Küsten von Norlan.

Die Namenlosen kamen unter der Führung des Prinzipals. Die Chronisten berichten von Dämonen, die ihnen zur Seite standen, als sie Numilen und Menschen gleichermaßen herausforderten und ihre Siedlungen zu zerstören begannen. In jener Zeit herrschten in Tuun-aal-Qohk und Bodnak zwei junge Könige: Gur-bej-Nam, ein Numilenpriester aus Yeo-bin-Oohk, war nach dem überraschenden Tod seines Vorgängers ein Jahr zuvor zum Hochkönig berufen worden; und Grondig war im Alter von nur fünfzehn Jahren zum König von Bodnak gekrönt worden, nachdem alle älteren Verwandten beim ersten Zusammentreffen mit den Namenlosen ums Leben gekommen waren. (Böse Zungen behaupten, Grondigs Vater habe zuvor versucht, ein Bündnis mit den Namenlosen gegen die Numilen zu schließen.)

Auf der Brücke des Letzten Bündnisses kamen alle zuvor verfeindeten Parteien zusammen: Menschen von Bodnak, Zadarin, freie Kriegerinnen und Numilen. Sie alle schworen einander Treue, und gemeinsam wurde beschlossen, den Kampf gegen die Namenlosen unter der Führung des Numilenkönigs Gur-bej-Nam aufzunehmen. Grondig kniete gar vor dem Numilen nieder und schwor ihm die Lehenstreue, und anschließend vereinten sich die Heere von Menschen und Numilen zum Kampf.

Auf der Waldschanze - oder Yyn-y-Qruuk, wie die Numilen die Burg nannten - kam es zur letzten und entscheidenden Schlacht. Menschen und Numilen siegten dort über die Namenlosen und all ihre dämonischen Verbündeten. Dem Prinzipal gelang zunächst die Flucht, doch Gur-bej-Nam verfolgte ihn und brachte ihn in der Eckmark zu Tode. Die Namenlosen aber wurden nach ihrer Niederlage auf die andere Seite des Scheidegebirges verbannt, und hiernach hörte man nicht wieder von ihnen.

Grondig herrschte zweiundvierzig Jahre, und in dieser Zeit wurde der Friede nicht gebrochen. Oft war der König zu Gast auf Tuun-aal-Qohk, und umgekehrt stattete erstmals ein numilischer Hochkönig der Stadt Bodnak einen Besuch ab. Reichtum und Wohlstand der Menschen erreichten eine ungekannte Blütezeit, die aber jäh gebrochen wurde, als Grondig einem Mordanschlag zum Opfer fiel, für den sein jüngerer Sohn Vangen verantwortlich war.

Nach Grondigs Tod wurde zunächst sein älterer Sohn König, dann aber Vangen selbst. Seit Jahren schon schimpfte Vangen über die friedfertige Herrschaft seines Vaters, vor allem aber über dessen Erniedrigung vor den Numilenkönigen, als deren Lehensmann Grondig sich gesehen hatte. So entsagte Vangen den Numilen die Treue und überfiel ihre Städte am Weißen Fluss. Der erste Numilenkrieg begann. Es war ein blutiges Schlachten, in dem die Menschen weite Teile des Nordens eroberten. Vier weitere folgten, und in jedem dehnten die Menschen ihren Machtbereich aus.

Der fünfte Numilenkrieg war der grausamste von allen. Im Jahr 1415 nach der Gründung von Bodnak brach Mingen, der letzte König des Reiches, diesen Krieg vom Zaun. Nicht nur Numilen waren seine Gegner, sondern auch die Zadarin. Die Heere von Bodnak fielen über das Zackengebirge her und brannten die Dörfer der Zadarin nieder, bis das Volk vernichtet war. Dann griffen sie Tuun-aal-Qohk an, eroberten die Burg und töteten die letzten numilischen Besatzer. Doch während all dies geschah, hatten sich die Numilen mit ihrem Heer gegen Bodnak gewandt. So vollkommen zerstörten sie die Stadt, dass nur die Grundmauern stehenblieben.

Nach der Zerstörung Bodnaks waren die Menschen ohne Führung. Es ist nicht bekannt, wie lange die hierauf folgende Zwischenzeit dauerte. Die Numilen schienen sich aus der Welt zurückgezogen zu haben. Nur am Grünen Fluss sah man noch manchmal ihre Algenbauern. Während manche forderten, das Ende von Bodnak zu rächen und auch die letzten Numilen zu töten, mahnten andere zur Besonnenheit. Es sei Zeit für den Wiederaufbau, nicht für noch mehr Krieg.

Die Burg Zadar, vormals Tuun-aal-Qohk erhielt ihren Namen zum Gedenken an das vernichtete Volk der Zadarin. Bald gab es erstmals einen Hochkönig der Menschen, der von dort herrschte. Die Stadt Bodnak aber wurde nicht wiederaufgebaut, und letztlich vergaß man gar, wo sie sich befunden hatte.